Nachdem vorgestern mein Flug quer durch Westsibirien wegen eines randalierenden Süffel-Opas in Omsk „notlanden“ musste (die Not war so groß, niemand gab ihm den Rum, seine dringend benötigte „Medizin“) saßen wir aufgrund der inzwischen abgelaufenen Arbeitszeit des Piloten mehrere Stunden im Airport Omsk fest. Hier dachte ich noch, dass der dadurch um einen Tag verspätete Heimflug mein größtes Problem wäre.
Tags darauf dann nach einer unfreiwilligen Nacht in einem Moskauer Hotel am Airport der Schreck in der Morgenstunde. Der Sicherheits-Check lag bereits hinter mir, nur die Passkontrolle noch vor mir. OK, der nimmt es aber dieses mal noch genauer als sonst. Scannt meinen gesamten Pass von vorne bis hinten. Telefoniert (was wird denn das jetzt, bitte?), bespricht sich mit ernster Miene mit seinem Nebenmann. Dann kam die erschütternde Frage: „Sir, are you aware that your visa has expired?“
Verdammt - daran hatte ich bei dem ganzen Zirkus nicht mehr gedacht. Anfängerfehler? Die Leute der Airline dachten am Vortag auch nicht daran, der letzte Flieger nach München war ja angeblich sowieso schon weg.
OK, jetzt war es soweit, siedend heiß wurde mir bewusst: ich bin nun als „Illegaler“ in der Sowjetunion!
Instantan startete mein Kopfkino! Graue Baracken (im Schnee, natürlich), Soldaten ziehen im Stechschritt vorbei. Grimmig schweigende Beamte, weit und breit niemand des Englischen mächtig. Tagelanger Aufenthalt in spartanisch eingerichteten Wartebereichen sozialistischer Büros. Vorwürfe, Befragungen durch eine strenge Polit-Kommissarin, tausend Formulare. Wie Fallbeile krachen die Stempel hernieder. Nochmals Formulare, Banknotenbündel im Personalausweis wechseln diskret den Besitzer. Letzte Hoffnung: irgendwann würde mich die Deutsche Botschaft doch raushauen.
Ein freundlicher uniformierter Beamter holte mich aus meiner Erstarrung zurück: „follow me, please!“
Ich erläuterte kurz den Grund des Malheurs und verwies zum Beleg auf die Verspätungsbestätigung der Airline. Nach 5 Minuten ging es weiter in ein anderes Büro, der nette Beamte mit dem exzellenten Englisch begleitete mich. Inzwischen hatte sich eine freundliche Unterhaltung entsponnen, als Bayer hat man doch überall ein gutes Thema zur Konversation: den FCB! Immer geachtet, weithin beliebt und oft auch gefürchtet (so wie man sich als Deutscher im Ausland gemeinhin selbst gerne sieht). „Mein“ Beamter war jedenfalls nach eigenem Bekunden sehr froh, dass Moskau in der CL Gruppenphase der FC Bayern als Gegner erpart bleibt.
Nach einer weiteren Viertelstunde erklärte man mir dann das folgende Prozedere: für den Illegalen Aufenthalt werden 2000 Rubel Strafe (ca. 25 €) fällig. „Sorry, this is the Russian law“ hieß es mit Bedauern, der Betrag kann mit großzügigem Zahlungsziel überwiesen weden. Dann für ein Ersatzticket zur Airline gehen und danach zur Deutschen Botschaft fahren, um ein kurzfristiges Visum für die Ausreise zu erwirken. Das lief ja einigermaßen glatt. Nicht mal Knast! Nur 2 Formulare bzw. Protokolle unterschreiben.
Allein die Aussicht auf eine bevorstehende Reise mit all meinem Gepäck zur Botschaft quer durch Moskau dämpfte meine Stimmung noch etwas.
Bei der Airline S7 (Air Siberia) gab es dann ehrlich betroffene Gesichter, und das Team versprach, sich schnellstmöglich um alles zu kümmern. Um alles? Ja, um alles. Auch das Visum! Wow - ich musste nur das Gepäck anholen, eine geringe Visumsgebühr bezahlen und warten. Etwa eineinhalb Stunden später saß ich dann frisch eingecheckt mit einem neuen Ticket (kulant auf einen baldigen Lufthansa-Flug umgebucht) in der S7 Business Lounge, in die man mich für die Wartezeit freundlicherweise eingeladen hatte.
– Fazit –
Tja, Stephan. Da wurden auf deiner zweiten Russlandreise wohl kurz mal ein paar alte, tief sitzende Vorurteile hochgespült. „Der Russe, an sich!“. Vorurteile, unterschwellig schön am Leben gehalten durch eine nach wie vor meist tendenziöse und einseitige Berichterstattung in unseren Medien (von der man in Russland sehr wohl Notiz nimmt, die, wie ich mehrfach gehört habe, auf die von Putin ach so geknechteten Russen teilweise recht verletzend wirkt - und dabei in Russland schön das Narrativ vom „alle sind gegen uns“ am Leben hält).
Doch statt Sowjet-Schrecken erlebte ich erstklassige Umgangsformen und freundliche Hilfsbereitschaft, gepaart mit einer absolut sauberen, modernen und unbürokratischen Abwicklung. Schlussendlich bin ich trotz der Verspätung dankbar, dass meine Vorstellungen durch dieses Erlebnis mit der Realität konfrontiert wurden. Wie doof man doch manchmal ist.
Und ja, verdammt nochmal: ich hätte mir vorgestern einfach nicht auf Youtube den alten Videoclip zu „Nikita“ ansehen sollen...! (Genau, dieses Video, in dem ein schwuler britischer Sänger in diversen bizarren Outfits an der innerdeutschen Grenze leidenschaftlich eine Soldatin der Roten Armee stalkt)