Nicht immer ist mir während der Aufnahme bewusst, wie die von mir fotografieren Natur-Phänomene bezeichnet werden. So auch bei diesem Bild. Meine Kameraden hatten sich bereits in den Schutz des Zeltes zurückgezogen, als ich dem intuitiven Drang zu einer Fotoserie im Abendlicht nachgab.
Ich schnappte mir nochmal den Fotorucksack und das schwere Stativ, und erklomm eine Anhöhe aus Eis. Oben angekommen, frönte ich der für mich wunderbarsten Form der Fotografie, die ich kenne. Besoffen von Licht, Einsamkeit und der unvorstellbaren arktischen Weite, tastete ich mit Augen und Sucher die Landschaft ab, stets auf der Suche nach einem Bild, das diese gewisse Resonanz in mir auslöst.
Als sich die Sonne fröstelnd hinter den Horizont verkrochen hatte um dem Mond für diesen Tag das Feld zu überlassen, erschien am östlichen Abendhimmel ein hypnotisches Farbverlaufs-Phänomen, das ich mir damals nicht erkläre konnte (aber ich hatte mich auch schon längst daran gewöhnt, erstaunliche Dinge in Grönland erst mal als gegeben hinzunehmen und erst später nach Erklärungen zu suchen).
Bei dem blauen Streifen direkt über dem Horizont handelte es sich um den Schatten der Erde, der in der dem Sonnenuntergang abgewandten Himmelsrichtung auf die Athmosphäre fiel. Also ein Phänomen von wahrlich planetarischer Dimension. Direkt über dem Erschattenbogen erschien, charakteristisch für diese auch „Rosa Stunde“ genannten Tageszeit, das „Venusband“ bzw. der „Venusgürtel“. Der Name rührt daher, dass in der Phase der Sichtbarkeit dieses extravagant gefärbten Himmelsareals oft der Planet Venus (auch als Abend- bzw. Morgenstern bekannt) sichtbar wird.
Während diese Erscheinung grundsätzlich keine Seltenheit darstellt, setzt sie doch freie Sicht auf den Horizont, offenen Himmel und möglichst klare Luft voraus. In dieser intensiven Ausprägung habe ich sie bisher nur über dem Grönländischen Inlandeis gesehen, wo die mögliche Fernsicht im Winter jede Vostellungskraft sprengt (in der Praxis wird sie am Ende durch die Erdkrümmung begrenzt). Aber auch in den Bergen kann man den Erschatten von erhöhten Standorten aus wohl sehr gut sehen, sofern der Himmel weitgehend wolkenlos ist..
Obwohl die Temperaturen nach dem Sonnenuntergang schnell ins Bodenlose fielen, habe ich mich noch einige Zeit vom Schein des Mondes in der der arktischen Nacht verzaubern lassen, bevor ich schließlich bei etwa -30 Grad Celsius den Rückzug ins Zelt angetreten habe.
In Sachen Fototechnik stellten die Aufnahmen des Erdschattenbogens keine besondere Herausforderung dar. Nicht einmal bei den späteren Bildern mit dem Mond im Bild brachte der enorme Kontrast zwischen der Landschaft und dem hellen Mond den Sensor der Nikon D810 an die Grenze seiner Abbildungsfähigkeiten. Trotzdem war eine präzise Belichtung mit Blick auf die Lichter des Mondes am rechten Rand des Histogramms angesagt, denn die Belichtungsmessung tendierte mit einer gewissen Penetranz dazu, diesen kleinen Lichtpunkt zu ignorieren und damit zur Überbelichtung zu verleiten - womit von dem strukturierten Abbild des Erdtrabanten nur noch ein überstrahlter heller runder Fleck übrig geblieben wäre.
Weitere Infos zum Erdschattenbogen: https://de.wikipedia.org/wiki/Erdschattenbogen
Weitere Infos zum Venusband: https://de.wikipedia.org/wiki/Venusgürtel